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Manuskript des Doktor Seltsam
Der Kodex des Archimedes galt viele Jahrhunderte lang als verschollen. Mitte des 19. Jahrhunderts tauchte es erstmals auf, dann noch einmal Anfang des 20. Jahrhunderts, nur um erneut zu verschwinden. In den 1990’er Jahren wurde es plötzlich von einer alteingesessenen Pariser Familie zum Verkauf feilgeboten. Unklar ist allerdings, wie das Manuskript in deren Hände kam, dessen Erben das wertvolle Buch nun verkauften. Wurde es legal erworben oder vielmehr aus einem Kloster in Istanbul gestohlen?
Als das Manuskript 1998 beim Auktionshaus Christie's unter den Hammer kam, war es in einem erbarmungswürdigen Zustand. Von Schimmel zerfressen, mit schwarzen Rändern stand es kurz davor, sich völlig aufzulösen. Als wäre das nicht genug handelt es sich auch noch um ein so genanntes Palimpsest, sprich der Originaltext wurde im Mittelalter abgeschabt und überschrieben. Der eigentliche Archimedestext war unter den Gebeten und Liturgien kaum mehr erkennbar - eine Herausforderung für die Wissenschaft.
Für 2,2 Millionen Dollar wechselte es schließlich die Hand, wer der neue Besitzer ist, wurde allerdings nicht bekannt gegeben. Von Anfang an wurde spekuliert, dass es sich bei dem "anonymen Milliardär aus der Computerbranche" um Jeffrey Bezos handelt, den Gründer und Chef von Amazon. Bestätigt wurde das nie, allerdings gilt es als offenes Geheimnis. Ob das an der durchaus zweifelhaften Provenienz liegt, kann man zumindest vermuten.
Der neue Besitzer übergab die brüchige Handschrift an das Walters Kunstmuseum in Baltimore, wo es zunächst gereinigt und konserviert wurde. Dann machten sich die Wissenschaftler daran, den Originaltext freizulegen. Angesichts des erbärmlichen Zustandes der Handschrift war das leichter gesagt als getan. Am Ende beschossen Sie es im Teilchenbeschleuniger mit Röntgenstrahlen und UV-Licht. Sie nutzen dabei die besonderen chemischen Eigenschaften der Tinte aus Galläpfeln, wie sie im byzantinischen Raum in Gebrauch war.
Dabei ermittelten Sie auch, wann die Handschrift verfasst wurde. Das Entstehungsjahr dürfte demnach um 950 liegen. Wohl ein Schreiber am Königshof von Byzanz fasste in dem Manuskript mehrere Traktate des vielleicht bedeutendsten Naturwissenschaftlers der Antike zusammen. Dass der nicht nur ein bedeutender Mathematiker und Erfinder war sondern auch ein etwas skurriler Charakter, belegen die zahlreichen Geschichten, die sich um die Figur des Archimedes ranken.
"Störe meine Kreise nicht!" (Noli turbare circulos meos), soll er den römischen Soldaten entgegen gerufen haben, als diese nach zweijähriger, verbissener Belagerung das brennende Syrakus stürmten. Einen der Legionäre versetzte das so in Wut, dass er den alten Mann an Ort und Stelle erschlug. Der britische Philosoph Paul Strathern bemerkte in diesem Zusammenhang bitter, dass dies der einzige entscheidende Beitrag der Römer zur Mathematik war. Nicht vergessen darf man aber, dass Syrakus den Römern nur wegen der raffinierten Kriegsmaschinen des Archimedes so lange widerstand. So gesehen, traf es durchaus den Richtigen. In mancher Hinsicht war Archimedes ein Doktor Seltsam.
Dubiose Herkunft
Vor über 150 Jahren entdeckte der Leipziger Forscher Konstantin von Tischendorf das Manuskript in der Klosterbibliothek zur Heiligen Grabeskirche von Jerusalem. Zwar erkannte er, dass sich unter den Bibelversen eine mathematische Schrift verbarg, diese als einen Kodex des großen Archimedes zu identifizieren blieb allerdings dem dänischen Wissenschaftshistoriker Johan Ludwig Heiberg vorbehalten.
Im Jahre 1906 spürte er das Manuskript in einer Abtei in Istanbul auf und begann, die Schrift zu übersetzen. Seinerzeit war das Büchlein noch in gutem Zustand, Heiberg genügte eine Lupe, um den Text zu entziffern. Lediglich bei vier mit bunten Bildern übermalten Seiten musste er passen. Für eine eingehendere Untersuchung hätte er das Manuskript mitnehmen müssen, dies wurde ihm jedoch nicht gestattet. Trotzdem schaffte es sein Bericht über den verloren geglaubten Kodex des Archimedes bis auf die Titelseiten der New York Times.
Noch bevor er nach Konstantinopel zurückkehren konnte, um die Untersuchung fortzusetzen, brach der erste Weltkrieg aus. Wie auch der Rest Europas versank die Türkei im Sog dieser Auseinandersetzung ins Chaos. Erneut galt das Werk als verschollen und wie genau es dazu kam, war Gegenstand gleich zweier Gerichtsverhandlungen.
Wie wir nun wissen, gelangte es 1923 in den Besitz des in Paris wohnhaften Geschäftsmannes Marie Louis Sirieix. Dessen Erben sind es, die das Stück nun feilboten. Er behauptete, er habe es von einem Mönch gekauft. Genau das bezweifelt aber der Patriarch von Jerusalem, der versucht hatte, den Verkauf per Eilantrag zu stoppen. Eine zweite Verhandlung folgte, da es sich nach Ansicht des Patriarchen um Hehlerware handelt. Und damit steht er nicht allein. Der griechisch-orthodoxe Patriarch Timotheus von Vostra, zuständig für die Abtei, sagte unter Eid aus, dass besagtes Manuskript ohne eine offizielle Erlaubnis niemals hätte verkauft werden dürfen. Das Gericht wies beide Klagen ab.
Aktenkundig ist, dass der Band Anfang der zwanziger Jahre noch in der Abtei und vor allem in gutem Zustand war. Es ist nicht ganz klar, wo der Band zwischendurch gelagert war, dem Zustand nach zu urteilen aber wohl in einem feuchten Keller. Die Schäden stammen jedenfalls aus jener Zeit. Es bekam Wasserschäden, dazu kam der Befall mit Schimmel und Ungeziefer. Beinahe wäre die Schrift für immer verloren gewesen. Unter den Texten ist immerhin die einzige erhaltene Kopie von den Methoden der mechanischen Theoreme und dem Kinderspiel Stomachion. Letzteres gilt als der Beginn der Kombinatorik.
Fremde Federn
Über 2000 Jahre nach ihrer Niederlegung liegen die sieben ausgewählten Traktate des Archimedes nun erstmals als vollständige Publikation vor. Das freut die Gemeinde der Wissenschaftsgeschichtler natürlich, vor allem unter dem Gesichtspunkt, dass die Schrift um ein Haar verloren gewesen wäre. Die Leistung der US-Forscher, die das Manuskript untersuchten, ist sicher nicht gering zu schätzen und so wollen wir es auch nicht tun. Trotzdem zogen sie sich mit der Publikation den Zorn vor allem der europäischen Archimedesforscher zu.
Dass der Verlag den Titel überschwänglich ankündigt und verlauten lässt, die Publikation würde unser wissenschaftliches Weltbild auf den Kopf stellen und die Geschichte der Mathematik müsse neu geschrieben, ist zwar Unfug, aber irgendwie noch verständlich. Ein wenig Werbung schadet ja nicht und ohne sie, wäre den meisten Menschen die "Sensation" wohl entgangen. An anderer Stelle allerdings kann man nicht so nachsichtig sein.
Obwohl das Werk längst wissenschaftlich erschlossen ist, feiern sich die Forscher aus Baltimore als Wegbereiter und Helden. Die Pionierarbeit von Heiberg erwähnen sie aber nur am Rande. Der mag die mathematischen Zeichnungen etwas nachlässig kopiert haben, allerdings übersetzte er den Großteil des Textes schon vor knapp 100 Jahren und das sollte schon gewürdigt werden. Zudem war es Heiberg, der die Kunde von der Existenz des Archimedes-Manuskriptes in die westliche Welt trug. Das alles erwähnen die Amerikaner nur am Rande.
Noch ärgerlicher ist aber, dass sie die kontroverse Geschichte des Bandes völlig ausblenden. Dass, wie es heißt, der Kodex irgendwann in den Besitz einer französischen Familie überging, wird der Sache wohl nicht ganz gerecht. Zwar wies das Gericht die Klagen des Patriarchen ab, allerdings stellte der Richter nur fest, dass die Klage zu spät erhoben wurde und der Anspruch deswegen verwirkt sei.
Von dem Urteil kann man halten was man will, den Vorwurf, bei dem Manuskript handele es sich um Hehlerware entkräftete es nicht. Ob in der Angelegenheit das letzte Wort gesprochen ist, muss man wohl abwarten. Immerhin ist der kostbare Band erstmal in guten Händen. Das ist wohl ein gewisser Trost.
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